Was will Occupy?

In der Öffentlichkeit wird oft bemängelt, dass die Ziele der Occupy-Bewegung unklar wären.
Diese Kritik ist verständlich. Gemeinsame politische Forderungen werden sich wohl erst in einem längeren Prozess artikulieren. Ich möchte an dieser Stelle drei Gründe nennen, die mich, und auch viele der Menschen, die hier demonstrieren, dazu bewegen, uns in dieser internationalen Bewegung zu engagieren.

Erstens:

Wir bringen unseren Respekt und unsere Anerkennung gegenüber den Millionen Menschen zum Ausdruck, die seit des Sturzes des tunesischen Diktators Ben Ali Anfang dieses Jahres, in vielen Ländern mutig, kreativ und gewaltfrei gegen politische und soziale Ausgrenzung kämpfen; die sich (wie jüngst auch in Russland) für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität engagieren und bereit sind, für diese Ideale sogar ihre persönliche Freiheit und ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Wir sind uns bewusst, dass unsere Solidaritätsbekundungen auch ein Ausdruck der Ohnmacht sind. Wir wissen, dass die Interessen der Politiker und Konzerne, von denen wir abhängig sind, mit denen der repressiven, undemokratischen Regime verflochten sind. Trotzdem, oder gerade deshalb, fordern wir unsere Regierungsvertreter auf, alles in ihrer Macht stehende zu tun, damit die Verfolgungen beendet werden.

Insbesondere darf es nicht sein, dass den undemokratischen Militärregimen, wie in Ägypten und Saudi Arabien, auch noch die Waffen geliefert werden, mit denen sie die Bevölkerungen unterdrücken.

Aus dem aktuellen Anlass der Prozesseröffnung protestieren wir auch gegen die sadistische Behandlung des Amerikaners Bradley Manning durch Militär und Justiz der USA. Bradley Manning, der Wikileaks Informationen über Verbrechen des US-Militärs im Irak gegeben haben soll, sitzt seit 17 Monate unter unmenschlichen Bedingungen in amerikanischen Militärgefängnissen.

Ganz offenbar geht es der US-Regierung um die Einschüchterung aller Bürger, die über die skrupellosen Machenschaften aus den Innenwelten von Militär und Big Business berichten könnten.

Zweitens:

Wir protestieren dagegen, dass die gleiche Politik und die gleichen Akteure, die für die Wirtschaftskrise und die Überverschuldung der öffentlichen Haushalte verantwortlich sind, keinen angemessenen Beitrag zur Behebung der Krise leisten. Es gab bisher keine nennenswerte Regulierung des Finanzsystems und keine Maßnahmen, die die jahrelange Umverteilung nach oben, von den Bevölkerungsmehrheiten zu den 1 – 5% Superreichen und Kapitalbesitzer auch nur einschränken.

Stattdessen verwaltet eine undemokratische Allianz von Politikern, Finanzwirtschaft und Großkonzernen die aktuelle Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems mit den jüngsten, sogenannten „Strukturprogrammen“, wieder mal auf Kosten der Allgemeinheit. In Kauf genommen wird dabei, dass immer mehr Menschen verarmen und die demokratischen Einrichtungen unserer Gesellschaft verkommen. Genau die Politik wird in verschärftem Maße fortgesetzt, die die große Wirtschaftskrise von 2008 – und alle anderen der letzten 30 Jahre – verursacht hat.

Die aktuellen „Stabilitätsprogramme“ bestehen aus den gleichen Maßnahmen, die uns schon seit Jahrzehnten als wirtschaftspolitische Allheilmittel angepriesen werden. Jeder hat sie schon tausendmal gehört, ihre Aufzählung ähnelt einer beschwörenden Litanei: Lohnkürzungen, Verlängerungen von Arbeitszeiten, Kürzungen von Sozialtransfers, Privatisierung öffentlicher Leistungen und Güter, Erhöhung der Verbrauchssteuern, Abbau von sozialen Rechten.

Begründet wird dies seit Jahrzehnten auch immer gleich, immer geht es um eine Anpassung der Lebensverhältnisse an ökonomische Realitäten, die entweder als anonyme Sachzwänge verdinglicht oder als ökonomische Freiheiten verklärt werden.

Immer wurden und werden uns die verordneten Anpassungen als alternativlos verkauft, sei es um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, sei es, wie aktuell, um Staatsschulden abzubauen.

Getreu dem neoliberalistischen Motto: wenn der Wohlstand für alle nicht reicht, sind die Reichen noch nicht reich genug, werden uns in jeder Krise die gleichen Rezepte serviert, immer sollen die Armen zahlen, immer sollen öffentliche und demokratische Institutionen weiter reduziert werden.

Und was ist bisher dabei herausgekommen? Im Folgenden möchte ich ein paar Fakten und Zahlen dazu nennen; die meisten sind beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung nachzulesen:
Die Realeinkommen der Lohnabhängigen stagnieren oder gehen zurück, die Kapitaleinkommen steigen:

In Deutschland sank der „Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen … zwischen 1980 und 2010 von gut 73 auf 63 Prozent“ während gleichzeitig die Kapitalbesitzer große Zuwächse hatten.

Die Arbeitsverhältnisse werden immer prekärer:

Jeder 5. Arbeitnehmer hat in Deutschland nur einen 400 Euro-Job. „Die Zahl der Betroffenen ist um 1,6 Millionen auf 7,2 Millionen gewachsen, seitdem die rot-grüne Regierung 2003 die Regeln gelockert hat.“

„Von 1995 bis 2008 … (hat) sich der Anteil der Niedriglohnbeschäftigten in Deutschland von 14,7 Prozent auf 20,7 Prozent erhöht.“
2, 5 Millionen Menschen haben nur befristete Arbeitsverträge.

Immer mehr, vor allem junge Menschen, werden in Praktikantenstellen ausgebeutet, sie bekommen häufig überhaupt kein Geld für ihre Arbeit.
Die gegenwärtige Stärke der deutschen Wirtschaft gegenüber seinen europäischen Nachbarn resultiert also aus den Lohnsenkungen der vergangenen Jahre:

„Schon im Herbst 2008 warnten Experten der OECD: Armut und Ungleichheit haben sich in keinem anderen Industrieland so schnell ausgebreitet wie zuletzt in der Bundesrepublik.

Nirgendwo habe sich die Kluft zwischen den Topverdienern und den Verlierern am Fuß der Einkommensskala so rasant ausgedehnt wie hier.“

Solche Arbeitsverhältnisse und ein krebsartig wuchernder Finanzsektor haben dazu geführt, das Einkommen und Vermögen immer ungleicher verteilt sind.

Das Einkommen der untersten zehn Prozent … schrumpfte von 1999 bis 2009 um 9,6 Prozent, während die obersten zehn Prozent 16,6 Prozent hinzugewannen.“

Ständig wird über die hohe, seit der Krisenhilfe für die Banken in der Tat kritische Verschuldung der öffentlichen Haushalte berichtet. Verschwiegen wird aber zumeist, dass den 1,5 Billionen Staatsschulden in Deutschland über 4,5 Billionen Euro private Geldvermögen gegenüberstehen.

Diese Vermögen sind noch ungleicher verteilt als die Einkommen:

„Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung verfügen heute über 61,1 Prozent des Gesamtvermögens – 2002 waren es erst 57,9 Prozent gewesen. 27 Prozent der Bevölkerung haben dagegen kein oder sogar negatives Vermögen, also Schulden. Nach einer Berechnung von Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung verfügt das reichste 0,1 (Zehntel) Prozent der bundesdeutschen Haushalte sogar über mehr als ein Fünftel der gesamten Vermögen.“

Unter der hohen Schuldenlast geraten nicht nur Staaten wie Griechenland und Italien unter das Diktat von Bankern und Technokraten. Auch immer mehr Kommunen in Deutschland verlieren ihre Haushaltssouveränität und werden unter dem Druck neoliberalistischer Politik zur Privatisierung öffentlicher Leistungen und Güter gezwungen.

Die Erpressung der öffentlichen Haushalte ist das jahrzehntelang (für die Kapitalbesitzer) erfolgreich betriebene Geschäftsmodell der neoliberalistischen Ökonomie und Wirtschaftspolitik.

Es beruht letztlich auf mehr oder weniger legaler Steuerhinterziehung, der schleichenden finanziellen Austrocknung öffentlicher Dienste, der Abpressung der profitabel zu bewirtschaftenden sozialen Infrastrukturen, der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten und dem Raubbau an den sozialen und ökologischen Zusammenhängen zugunsten
kurzfristiger Gewinne.

So geraten auch Medien, Bildung, Kultur und Wissenschaft immer stärker unter den direkten Einfluss des großen Geldes.

Dabei wird am Beispiel der führenden Industriemacht des Westens, den USA, überdeutlich, wohin diese Politik der Auslieferung der Lebensverhältnisse lohnabhängiger Menschen an einen deregulierten Markt führt, der durch mächtige Kapitalinteressen dominiert wird:

50 Millionen US-Bürger haben keine Krankenversicherung, das us-amerikanische Gesundheitssystem ist das teuerste und ineffektivste der Welt, in den USA sind in Relation zur Bevölkerung mehr Menschen inhaftiert als es bisher in der gesamten Geschichte der Menschheit in einem Land der Fall war. Das zum großen Teil privatisierte Gefängnissystem der USA ist eine boomende Branche mit sicheren Profiten.

Obwohl auch andere Privatisierungen (z.B. der Bahn in Großbritannien, der Wasserversorgung in vielen französischen Kommunen) fast immer zum Schaden der Allgemeinheit und der Umwelt ausgefallen sind (und häufig auch rückgängig gemacht werden mussten), gehören Privatisierungen, als zentrales Projekt neoliberaler Politik, auch in den jüngsten „Sparprogrammen“ zu den wichtigsten Maßnahmen, die den betroffenen Ländern aufgezwungen werden.

Trotz dieser eindeutig zerstörerischen Bilanz neoliberalistischer Politik und des entfesselten Kapitalismus ist es bisher leider nur eine Minderheit in der westlichen Bevölkerung, die sich aktiv gegen diese Politik wehrt.

Dabei sind auf globaler Ebene die Ungleichheiten, Verarmungsprozesse und Zerstörungen sozialer Infrastrukturen noch viel drastischer:

Über eine Milliarde Menschen hungern, obwohl die Hälfte der produzierten Nahrungsmittel auf der Erde vernichten wird. Über 50% der Menschen gelten als arm. 20% der Weltbevölkerung verbrauchen 80% der Ressourcen. Hunderte von Milliarden fließen inzwischen in die Spekulation mit Rohstoffen und Nahrungsmittel, werden also von den Reichen auf Preisanstiege gewettet, auf Verteuerungen, die besonders die Situation der Armen weiter verschlechtern.

Seit der Klimakonferenz in Durban wissen wir auch, dass der Klimawandel in absehbarer Zeit nicht gebremst wird, dass die Biosysteme der Erde weiter zerstört und der Treibstoff unseres kapitalistischen Systems, das Erdöl, gefährlich knapp werden wird.

Es spricht also vieles dafür, dass sich die ökonomischen, politischen und ökologischen Krisentendenzen in nächster Zeit bedrohlich zuspitzen.

Was die ökonomische Krise anbelangt, so ist offensichtlich die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Verwertungsprozess gegenwärtig nur noch möglich, wenn die Lebens- und Arbeitsbedingungen der „unproduktiven“ Bevölkerungsgruppen auch in den westlichen Industriegesellschaften drastisch weiter „verbilligt“ werden. Vermutlich wird dies mit einer Zerstörung von Lebensperspektiven und einem Verlust von Besitzständen einhergehen, wie es seit dem 2. Weltkrieg in diesen Regionen nicht mehr vorgekommen ist.

Es bedarf keiner großen Phantasie, um vorauszusagen, dass dabei die demokratische Kultur
weiter beschädigt wird, reaktionäre Einstellungen in nationalistische Bahnen gelenkt werden
und die rassistische Gewalt zunehmen wird.

Die Gefahr eine Zusammenbruchs der Eurozone ist nicht gebannt. Ein solches Ereignis hätte völlig unkalkulierbare Folgen. Zweifellos würde auch die Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs großer kriegerische Konflikte erheblich wachsen.

Auch wenn es nach dem bisher Gesagten so scheint – es geht uns nicht um eine resignative Beschwörung apokalyptischer Entwicklungen.

Aber es kann doch keinen vernünftigen Menschen unberührt lassen, dass sich einerseits die großen globalen Krisentendenzen der letzten Jahrzehnte – Verarmung, Umweltzerstörung, Ressourcenknappheit, Krisenhaftigkeit der Ökonomie, Gewalt und neuerdings vermehrt Nationalismus gefährlich zuspitzen – und andererseits den Regierenden und Managern kein anderes Konzept einfällt, als als zum zigsten Mal die Verarmung der arbeitenden Bevölkerungsschichten zu vergrößern, Sozialstaat und Demokratie zu schwächen.

Dabei gibt es natürlich eine Alternative, sie ist ganz offensichtlich: Die Reichen müssen zahlen – Vermögenssteuern, Umschuldung, Schließung der Steueroasen etc., etc. – es gibt viele Möglichkeiten, mit dem Irrwitz der Monopolisierung und mit der Verschwendung des globalen gesellschaftlichen Reichtums Schluss zu machen.

Sicherlich muss man solche Maßnahmen im Detail diskutieren, aber entscheidend ist, dass man sie wollen muss – die Richtung der Politik muss geändert werden. Und vor allem müssen wir eine solche Richtungsänderung wollen, wir müssen unser Leben ändern, jeder Einzelne, statt immer nur den Reichen und Mächtigen hinterherzulaufen.

Eine Maßnahme für eine solche Richtungsänderung wäre die Finanztransaktionssteuer. Attac hat diese Steuer seit Jahren gefordert, inzwischen halten fast alle Experten diese Steuer für ein geeignetes und notwendiges Instrument der Eindämmung des Finanzsektors und der Umverteilung des globalen Reichtums.

Die historische Chance besteht darin, dass eine Finanztransaktionssteuer, die durch den politischen Druck der Bevölkerungen eingeführt wird, nicht nur eine Steuerung der globalen Ökonomie bewirkt, nicht nur finanzielle Mittel zur Verbesserung der Verhältnisse in den Armutsregionenfreimachen würde, sie wäre auch ein erster Schritt zu einer demokratischen globalen Weltinnenpolitik, sie wäre ein erster Schritt zu einer gerechteren und friedlicheren Welt, in der die Bevölkerungen nicht weiter Mitläufer der kapitalistischen und militärischen Konkurrenzkämpfe ihrer sogenannten Eliten sind.

Diese Eliten, die vor der Krise ständig von Globalisierung schwärmten, wollen uns heute überall wieder mit nationalistischen Slogans vereinnahmen. Nun müssen wir zeigen, dass wir dabei nicht mitmachen, das wir als Bürger für eine globale demokratische und solidarische Weltpolitik eintreten.

Daher sind wir drittens der Überzeugung, dass Alternativen und ausreichender Widerstand gegen diese Politik der Verarmung, Spaltung, Entdemokratisierung und gegen die Prozesse der weiteren Zerstörung unseres Planeten nur mit Hilfe einer starken radikaldemokratischen, solidarischen transnationalen Bewegung entwickelt werden können.

Eine solche Bewegung wäre ein notwendiges Gegengewicht gegenüber Nationalismus, gewalttätigen Eskalationen von Konflikten, der repressiven, zerstörerischen Macht der Konzerne und Banken. Aber auch, und nicht zuletzt, gegenüber einer Medienlandschaft, die weitestgehend aus Hofberichterstattern der politischen Repräsentanten und regierenden Manager besteht und keine kritische Distanz zu deren ideologischer Weltdeutung mehr einnehmen kann.

Nur eine Bewegung, die zusammen mit den zahlreichen sozialen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen der Welt jetzt mutig gegen die Eskalationspolitik der Regierenden und für eine sofortige Abrüstungspolitik eintritt, für die konsequente Verwirklichung politischer und sozialer Rechte, aber auch für eine umfassende Umverteilung und vernünftige Verwendung des globalen Reichtums, nur eine solche weltweite Bewegung nähme die kleine Chance wahr, die die Menschheit noch hat, ihren Traum von einem gerechten Leben für alle zu verwirklichen.

Dietmar Schuetz-Herbig